Art. 38 Abs. 1 Satz 2, 42 Abs. 1 Satz 1, 76 Abs. 3 Satz 6 GG, §§ 32 Abs. 1, 64 Abs. 1 BVerfGG, GEG
1. Ungeachtet der Frage, ob einzelne Akte im Gesetzgebungsverfahren nur vorbereitenden Charakter haben, liegt auf der Hand, dass die Ausgestaltung eines Gesetzgebungsverfahrens in seiner Gesamtheit möglicherweise die Beteiligungsrechte des einzelnen Abgeordneten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG verletzen und damit tauglicher Gegenstand eines Organstreits sein kann.
2. Die gleichberechtigte Teilhabe an der parlamentarischen Willensbildung umfasst u. a. das Recht der Abgeordneten, sich über den Beratungsgegenstand auf der Grundlage ausreichender Informationen eine eigene Meinung bilden und davon ausgehend an der Beratung und Beschlussfassung des Parlaments mitwirken zu können.
3. Eine abstrakte Bestimmung der Angemessenheit der Dauer einer konkreten Gesetzesberatung ist nicht möglich. Vielmehr bedarf es der Berücksichtigung sämtlicher Umstände des jeweiligen Einzelfalls sowohl hinsichtlich des konkreten Gesetzentwurfs als auch hinsichtlich weiterer, die Arbeitsabläufe des Parlaments bestimmender Faktoren.
4. Auch wenn der Parlamentsmehrheit ein weiter Gestaltungsspielraum bei der Bestimmung der Verfahrensabläufe im Parlament zusteht, spricht einiges dafür, dass die Verfahrensautonomie die Parlamentsmehrheit nicht von der Beachtung des durch Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG garantierten Status der Gleichheit der Abgeordneten entbindet und das Abgeordnetenrecht verletzt wird, wenn es bei der Gestaltung von Gesetzgebungsverfahren ohne sachlichen Grund gänzlich oder in substantiellem Umfang missachtet wird. Im Rahmen der stattdessen gebotenen Folgenabwägung überwiegt unter den besonderen Umständen des vorliegenden Einzelfalls das Interesse an der Vermeidung einer irreversiblen Verletzung der Beteiligungsrechte des Antragstellers aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG gegenüber dem Eingriff in die Verfahrensautonomie des Antragsgegners, der der Umsetzung des konkret verfolgten Gesetzgebungsverfahrens letztlich nicht entgegensteht.
(Leitsätze der Redaktion)
BVerfG, Beschl. v. 05.07.2023 – 2 BvE 4/23
DOI: | https://doi.org/10.37307/j.2194-5837.2023.05.10 |
Lizenz: | ESV-Lizenz |
ISSN: | 2194-5837 |
Ausgabe / Jahr: | 5 / 2023 |
Veröffentlicht: | 2023-09-13 |
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